Mönchsbuche statt Brocken
11.09.2016
Es ist einer von diesen wunderschönen, warmen und bunten Herbsttagen. Der Kalender zeigt uns den 11. September an
und alle Welt hat diese schrecklichen Bilder von vor fünfzehn Jahren vor Augen, als die Trümmer der Twin Towers 3.000
Menschen in den Tod rissen. Heute begeht aber auch mein Sohn seinen Geburtstag und da dies sein ganz eigener Tag ist,
meint er, ihn auch so verbringen zu wollen. Da liegt der Gedanke nah, es ihm gleich zu tun und ebenfalls etwas für das
körperliche Wohlbefinden und die eigene Seele zu vollbringen. Gelegenheit, eine der schlummernden Wandervorhaben
unter die Fußsohlen zu nehmen.
Das Vorhaben steht weit oben im Nationalpark Harz. Auf dem Weg dorthin müssen knapp zweihundert Höhenmeter auf
einer Strecke von drei Kilometern erlaufen werden. Klingt nach nichts, fühlt sich aber völlig anders an. Von dort aus sollen
uns die Füße noch etwas höher zum Gasthaus „Steinerne Renne“ tragen. Speisen und Getränke sollen unser Lockmittel
sein, so der Plan. Der Kaffee könnte wieder am heimischen Tisch getrunken werden, so der Plan des Tages.
Die Schüttel wird am Bahnhof „Steinerne Renne“ der Brockenbahn abgestellt. Hier soll unser nächstes Harzabenteuer
beginnen. Der direkte Weg zum Berg-Gasthof ist eine Schotterstraße, die lange sechs Kilometer die Schuhsohlen strapaziert.
Wie der Eingang in eine fremde Märchenwelt aber lockt uns der Beginn eines Pfades, der direkt nach oben ins Irgendwo,
zur alten Mönchsbuche führt. Mutig schreiten wir voran, die kleine Hundedame Lily tippelt zwischen uns.
Der Hohlweg führt ziemlich schnell steil bergan, als würde er auf die Baumwipfel zielen. Das Grün des Sommers ist matt
geworden und die Farbe der Blätter füllt das ganze Spektrum von gelb, über braun und manchmal auch rot aus. Dazu das
Wechselspiel von Licht und Schatten, das den Hängen an den Seiten scharfe Konturen verleiht. Ein Caspar David Friedrich
hätte seine helle Freude daran, vermute ich. Die Bäume spenden noch genug Schatten, doch schon bald öffnet sich das
Blätterdach und die Sonnenstrahlen berühren immer öfter meinen Körper, der sich langsam erhitzt. Ich schwitze und die
kleine Hundelady lässt ihre Zunge hängen. Wir sind noch keine halbe Stunde unterwegs, als der Weg eine scharfe Biegung
macht und plötzlich über eine nur kärglich bewachsene Freifläche führt. Links ein steiler Hang und rechts schroffe Felsen,
auf denen sich vereinzelt Bäume festgekrallt haben. Ich kann noch immer gut laufen, aber meine Haare sind schweißnass.
Da hilft nur ein Haargummi, damit mir den unangenehme Nässe nicht am Rücken abwärts läuft.
Geschätzt haben wir nun einhundert Höhenmeter mehr unter den Füßen. Der Planet brennt mit seinen Strahlen kleine rote
Muster in die Haut, als wir endlich den schützenden Nadelwald erreichen. Jetzt ist es im Schatten angenehm kühl, denn das
Nadelgehölz, das jetzt langsam die Laubbäume ablöst, reckt sich lang dem Himmel entgegen. Es läuft sich gut hier, obwohl
die Spuren der Forstarbeiten überall zu mehr Vorsicht anregen, will man nicht stolpern. Auch Lily hat Mühe, mit ihren
kurzen Beinen über die Äste und das Reisig zu springen. Wir laufen jetzt oben am Waldrand entlang und wir können den
Weg erkennen, der uns bis hierher geführt hat. Wir stehen am Grat, hinter uns der Waldrand, vor uns fällt der Hang steil
nach unten ab. Unseren Augen öffnet sich herrlich weiter Blick über die Berghöhen bis hinunter zu den letzten Häusern von
Hasserode, wo wir losgelaufen sind. Es ist eine traumhaft schöne Kulisse, über die unsere Blicke schweifen, von der ich
mich nur schwer losreißen kann. Doch wir sind noch nicht an unserem Ziel angelangt und müssen weiter, immer am
Waldrand entlang mit dem Blick auf den Weg und nach unten, durch die Baumstämme hindurch.
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Dann eine weitere Lichtung im grellen Sonnenlicht. Uns zu Füßen liegt das untere Tal der „Steinernen Renne“, das sich bis
Hasserode zieht. Dahinter ist Wernigerode mit dem Schloss über der Stadt gut zu sehen Was für eine prächtige Aussicht.
Allein dafür hätte sich das Steigen über Wurzeln, Steine und Äste gelohnt. Jemand hat hier eine rustikale Bank und einen
Tisch hingestellt, doch wenn man daran sitzt, versperren hoch gewachsene Sträucher die schöne Aussicht. Ich stelle mich
einfach darauf und kann nun die ganze Schönheit, wie aus einem riesigen Fenster, bewundern. Beim Absteigen von der
Tischplatte verhindert nur meine Arschbremse, dass daraus kein Absturz, wie aus einem Fenster wird. Später erfahren wir,
dass dies hier der „Fensterblick“ genannt wird.
Von hier bis zur Mönchsbuche sind es keine fünfzehn Minuten mehr. An einer Abzweigung wenden wir uns nach rechts und
stehen wenig später an dem Ort, wohin wir wollten. Vor uns, auf einer Lichtung, verzweigt sich der Weg in verschiedene
Richtungen, fast so wie bei einem Kreisverkehr. In der Mitte, wie eine kleine Insel, der Platz, auf dem die alte Buche steht,
knorrig, abgebrochen und eigentlich nur noch der Rest eines ehemals stolzen Baumriesen. Hier verlief seit dem 13.
Jahrhundert die Verbindung zwischen den Klöstern Ilsenburg und Himmelpforte. Hier stand auch stets eine Buche und es
gab so etwas wie eine Lagerstätte zur Rast. Hier trafen sich die Ordensbrüder bei ihren Wanderungen durch den Harz.
Heute steht hier am Wegesrand eine kleine hölzerne Unterkunft, als Schutz vor schlechtem Wetter und davor Tisch und
Bank zur Rast. Wir haben unser erstes Ziel erreicht. Endlich Zeit für eine Pause, einen Napf voll Wasser für Lily und den
obligatorischen Stempel ins Wanderheft.
Als ich mich wieder erhebe, um mir die Mönchsbuche einmal aus der Nähe zu betrachten, macht sich mein Knochengestell
bemerkbar, unaufdringlich aus dem Hinterhalt. Bis hierher habe ich die Natur mit den Augen eines jugendlichen
Wanderhelden betrachtet, doch zweihundert Meter höher, melden sich nun auch andere Einrichtungen des Helden und auf
diese Weise die Realität. Aus Erfahrung weiß ich, die Wanderung abwärts kann schwieriger sein, als das Erklimmen der
Höhen. Die geplante Eroberung der Gaststätte „Steinernen Renne“, zwei Wanderkilometer weiter, wird deshalb ersatzlos aus
dem Plan gestrichen. Zumindest für heute und diese Stunde. Ist auch nicht schlimm, denn wir machen hier nicht Urlaub,
sondern haben uns hier schon eingenistet.
Der Plan, die „Steinerne Renne“ plus Gaststätte zu erkunden und zu erobern ist damit nur gespeichert, nicht gestrichen.
Auch der kleinen Lily zuliebe, die uns schon Minuten später, auf dem Schotterweg ins Tal hinunter, hilfesuchend anschaut.
Sie tippelt jetzt schon drei Stunden mit uns über Stock und Stein sowie zusätzlich zwischen uns hin und her, so dass ihre
vier kleinen Füßchen deutlich mehr bewältigt haben müssen, als unsere. Wir verstauen all unsere Wanderutensilien in dem
einen, Lily im anderen Rucksack. Nunmehr bequem auf meinem Rücken verstaut, gehen wir die restlichen Kilometer
abwärts dem Parkplatz entgegen. Lily scheint zufrieden, mein Knochengestell lauert im Standby-Modus. Ohne weitere
Probleme erreichen wir die „Schüttel“, die uns, von der Sonne gut erhitzt, wieder nach Hause bringt.
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Unser Sohn lässt uns wissen, dass er zur gleichen Zeit den Brocken per pedes erklommen hat. Jeder soll seinen eigenen
Willen haben und ihn durchsetzen, wenn er meint, es tun zu müssen. Doch nach oben, nach Höherem zu streben, dies ist
lange kein Privileg der Jugend oder der fast Vierzigjährigen mehr. Die „Alten“ pflegen dies auch zu tun, nur folgen sie eben
nicht mehr den Pfaden, auf denen alle nach oben streben. Sie suchen sich oft weniger ausgetretene Pfade, um Ziele zu
erreichen, die deren größerer Lebenserfahrung würdig sind. Unser Brocken hieß diesmal Mönchsbuche und wir trafen auf
dem Pfad nur selten einen anderen Wanderer. Wir durften die entspannte Ruhe der Abgeschiedenheit genießen, die dem
Brockenplateau bei solchen Abenteuern längst dem Kommerz geopfert wurde. Das Alter genießt den Vorzug, nicht mehr wie
alle sein zu wollen, so wie die alte knorrige Buche im Wald auch, die schon Jahrhunderte kommen und gehen sah.
Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.